Zeichnen, um das Erlebte zu verarbeiten

Der Download einer App ist genug, um ins Gefängnis zu kommen: Das hat Tugba aus der Türkei erlebt, als sie 2017 „ByLock“ nutzte, einen Messenger-Dienst, die verschlüsselte Kommunikation bietet. Die App war in diesen Jahren beliebt bei Anhängern der Gülen-Bewegung, um sicher untereinander kommunizieren zu können, aber auch bei anderen Bürger*innen wie Tugba, die mit der Bewegung nichts zu tun hat. Dennoch reichte die bloße Nutzung von ByLock dem türkischen Staat als Grund aus, zehntausende Menschen verhaften zu lassen. Eine davon Tugba.

6 Monate muss sie in Haft verbringen, eine extrem belastende Zeit für sie. „Um genau zu sein, waren es 183 Tage“ erinnert sie sich direkt. Eine Zahl, die sie nie mehr vergessen wird, genau so wie die Zeit im Gefängnis: „Die Haft war sehr schlimm für mich, ich habe die Tage gezählt und jeden Tag gehofft, freizukommen.“

Um die Zeit zu überstehen fängt sie an zu zeichnen und zu malen. In den sechs Monaten entstehen zahlreiche Cartoons und Zeichnungen, in denen Tugba die Zeit im Gefängnis verarbeitet und ihre Haft thematisiert. Sie zeichnet aber auch lustige Comics und Karikaturen über die Eigenheiten der Insassen – ihren Humor und ihren Willen zu Überleben lässt sie sich auch in Unfreiheit nicht nehmen lassen und will sich nicht brechen lassen von der Haft. Während sie erzählt, lacht sie in Erinnerung an ihre Zeichnungen, die immer auch Ablenkung von der Realität waren. Leider konnte sie die Bilder nicht aufbewahren, sondern hat alles Gemalte aus Vorsicht immer direkt vernichtet, um im Gefängnis nicht aufzufallen oder Probleme zu bekommen.

Nach sechs langen Monaten in Haft kommt sie dann endlich frei – kann aber noch immer nicht aufatmen. Der Fall ist nicht abgeschlossen, sondern im Gegenteil: Sie muss für die eigentliche Verhandlung vor Gericht erscheinen und sich erneut für die Nutzung von „ByLock“ verantworten. Und das Urteil fällt drakonisch aus: Nun soll Tugba für mehrere Jahre uns Gefängnis.

Foto: Ma’an Moussli/Nun Kreativa

Sie weiß, dass sie eine solch lange Haftstrafe nicht überstehen würde und entschließt sich notgedrungen zu fliehen. Über einige Umwege kommt sie 2019 in Deutschland an – landet zunächst in Bremen, wird dann aber nach Bad Bad Fallingbostel geschickt, von dort nach Braunschweig und landet schließlich im Grenzdurchgangslager in Friedland, wo sie schließlich fast ein Jahr auf ihr Verfahren warten muss. In dieser Zeit beginnt sie einen Deutschkurs und lernt im dortigen Frauenzentrum lernt viele Familien kennen, mit denen sie Zeit verbringt. Auch im Dorf fühlt sie sich herzlich willkommen: „Die Menschen auf der Straße waren nett, haben einen immer begrüßt, obwohl sie wissen, dass wir geflüchtet sind“ berichtet sie – entgegen ihrer Erwartungen und auch dem Rassismus, den sie in der Vergangenheit erfahren hat. Immer wieder trifft sie auf verschiedene Widerstände und Hürden: Tugba sieht sehr schlecht und braucht eine neue Brille. Weil sie selbst aber kein Geld hat und auch das Asylbewerberleistungsgesetz Kostenübernahmen nicht vorsieht, kann sie sich keine Brille anfertigen lassen und muss sich notdürftig anders behelfen. Als es endlich zu ihrer Anhörung kommt, kann sie den Übersetzer kaum verstehen und hat das Gefühl, das auch er sie missversteht. Sie hat in der Türkei Rechtswissenschaften studiert und ist Juristin. Der Abschluss wird aber nicht anerkannt und das Jobcenter bietet ihr zwar an, einen Job als Sachbearbeiterin aufzunehmen, weil Tugba das aber nicht zusagt, entschließt sie sich für eine Ausbildung im IT-Bereich.
Die vielen Hürden und Herausforderungen lassen sie nicht resignieren, sondern weitermachen, auch wenn es ihr manchmal schwerfällt: „Überall auf der Welt brechen Kriege aus, müssen Menschen fliehen, gibt es Schlechtes. Wie soll man da optimistisch in die Zukunft blicken? Ich habe keine Erwartungen an eine helle Zukunft mehr.“
Sie ist inzwischen verheiratet und lebt mit ihrem Mann, der ebenfalls ein Jurist ist, und ihrem kleinen Sohn in Minden. Auf die Frage, ob sie sich trotzdem etwas für ihre Zukunft wünscht, antwortet sie: „Ich möchte, dass mein Sohn ein schönes Leben hat. Ich hoffe wir finden eine liebe Tagesmutter oder eine gute Kita. Ich habe schon viel Erfahrung mit Rassismus gemacht – ich wünsche mir, dass das meinem Sohn erspart bleibt.“

Text: Luca Wirkus/Exil e.V.

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