Wenn Frieden plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist
In Frieden aufwachsen zu können und eine gute Schulbildung bekommen – das sind Annas Wünsche für ihre Kinder. Und lange war deren Erfüllung selbstverständlich und Anna, führten sie doch ein gutes Leben in der Stadt Cherkassy in der Ukraine. Ihr Sohn geht dort in die Schule, die Tochter in den Kindergarten, Anna arbeitet im Bereich Finanzwesen, sie führen ein normales, schönes Leben.
Bis der Angriff Russlands auf die Ukraine all das umwirft und die Familie sich plötzlich im Krieg wiederfindet. Eine gute Zukunft scheint über Nacht unmöglich geworden zu sein und Anna erzählt: „Ich habe einfach nichts mehr verstanden. Plötzlich hatte ich keine Träume oder Wünsche mehr, konnte mir keine Zukunft mehr vorstellen. Alles hat sich geändert und wir haben nicht mehr richtig gelebt, nur noch existiert.“
Anna bleibt noch eine Weile mit ihren Kindern in der Stadt und sie verlassen die Wohnung kaum noch, weil auch die Schule nicht stattfindet. Sie liegen nachts wach, während andauernd die Alarmsirenen Bombenalarm ankündigen. Nach einer Woche hält die Familie es nicht mehr aus und Annas Mann überredet sie, mit ihren beiden Kindern zu seinem Bruder nach Lwiw zu fahren. „Der Krieg ist kein Ort, an dem Kinder sein können, nichts, was Kinder sehen dürfen, wir mussten weg.“
Weil die Tankstellen geschlossen sind und es kein Benzin mehr gibt, fahren sie die 14 Stunden mit dem Bus in die Stadt im Westen der Ukraine. Anna fährt alleine mit ihren Kindern und hat nur einen großen Rucksack dabei. Angekommen in Lviv überlegen sie, wie es weitergehen kann. Ihr Schwager hat Bekannte in Norwegen und die Familie überlegt, nach einem Zwischenstopp in Hamburg dort unterzukommen. Weil die Strecke aber so weit ist, entscheiden sie sich, zunächst nach Deutschland zu fliehen, um von dort aus eine mögliche Weiterreise zu planen.
Weil Annas Mann einen Freund in Osnabrück hat, bei dem sie und ihre Kinder unterkommen könnten, entscheidet sie sich, mit ihren Kindern nach Osnabrück zu fahren. Sie erzählt: Als ich am Busbahnhof gesehen habe, dass ein Bus durchfährt direkt bis nach Osnabrück, habe ich gedacht: Das ist ein Zeichen!“ Sie und ihre Kinder fahren los und landen nach 1300 km Fahrt in Osnabrück. Sie können zunächst bei Annas Freundin unterkommen und nach ein paar Tagen dann bei einer Familie in Wallenhorst. Anna spricht kein Deutsch, die Familie in Wallenhorst kein Ukrainisch, also muss die Kommunikation mit Hand und Fuß laufen. Anna ist dankbar für die Unterstützung, die die Familie ihr gibt, aber trotzdem freut sie sich umso mehr, als sie eine kleine Wohnung für sich und ihre beiden Kinder in Osnabrück findet. Die Wohnung ist winzig – nur ein Raum und eine kleine Küche für alle – aber die kleine Familie arrangiert sich, lernt jeden Tag zusammen Deutsch und findet sich zusehends mehr in Deutschland zurecht. Dennoch: Anna geht davon aus, dass sie nur für ein paar Wochen oder höchstens ein paar Monate im Exil in Deutschland bleiben muss, weil sie hofft, dass der Krieg in der Ukraine schnell zu Ende geht.
Doch die Wochen und Monate vergehen und der Krieg ist noch immer nicht vorbei. Während besonders ihre Tochter in der ersten Zeit in Deutschland ihre Heimat und ihren Vater sehr vermisst hat, kommt die kleine Familie immer mehr in Osnabrück an. Sie alle lernen Deutsch, melden sich in der Schule und im Kindergarten an und Anna macht bei Exil E.V. einen Kurs zur Arbeitsmarktqualifizierung. Zum Glück finden sie eine Wohnung mit einem Zimmer mehr, sodass sie genug Platz für alle haben. Die Monate vergehen und in der Ukraine ist noch immer Krieg.
Anna fühlt sich zunehmend wohl in Deutschland und die Idee von einer Weiterreise nach Norwegen gerät in Vergessenheit. Doch auch die baldige Rückreise nach Hause in die Ukraine wird immer unwirklicher – der Krieg dauert inzwischen fast zwei Jahre. Anna findet einen Job in einem Modegeschäft in Osnabrück. Sie arbeitet gerne dort, weil sie nette Kolleginnen hat und nebenbei immer neue Wörter aufschnappt. Eigentlich will sie aber zurück in ihren alten Job und sucht daher nach einem Praktikumsplatz – gleichzeitig mit ihrem Sohn, für den bald ein Schulpraktikum ansteht.
Anna erzählt, dass sie gerne fotografiert und Bücher liest. „Doch ich komme dazu gar nicht, immer ist etwas zu tun – Kindergarten, Schule, Arbeiten, Bewerbungen, Lernen, Haushalt. Das ist nicht so leicht ohne Großeltern oder andere Unterstützung hier in Osnabrück.“ Doch sie fühlt sich wohl hier, erzählt, dass sie sehr herzlich aufgenommen wurde: Alle waren tolerant und freundlich, das hat das Ankommen hier erleichtert. Und sie hat noch viel vor: Ich wünsche mir, dass mein Sohn und ich einen guten Praktikumsplatz finden und dass meine Tochter dieses oder nächstes Jahr mit der Schule starten kann. Aber am wichtigsten: Ich wünsche mir, dass es Frieden in der Ukraine gibt.
Text: Luca Wirkus/Exil e.V.