„Gebt uns die Chance, die wir verdienen!“

Ulyana flieht im März 2022 aus der Ukraine. Sie sagt: „Die Deutschen müssen verstehen, dass wir alle nicht freiwillig hier sind, dass wir alle fliehen mussten und keine andere Wahl hatten. Ich würde sehr gerne in einer friedlichen Ukraine leben, in der kein Krieg herrscht. Ich habe alles verloren und musste ganz neu anfangen. Das macht niemand freiwillig.“ Es ist nicht das erste Mal, dass sie in Deutschland lebt – schon früher hat sie in Bonn studiert, kennt also das Land, die Sprache und das Leben hier. Als die Angriffe beginnen, wird ihr schnell klar, dass sie in der Ukraine nicht bleiben kann, dass sie die ständige Gefahr nicht aushält. Gemeinsam mit ihrem Sohn flieht sie zunächst in den Westen des Landes, doch als auch dort die Raketen fallen, setzen sie ihre Flucht nach Polen fort. Wie so viele glaubt sie, dass der Krieg nur wenige Wochen dauern wird, vielleicht bis Mai, und dass sie bald wieder nach Hause zurückkehren kann. Doch als kein Ende in Sicht ist, zieht sie weiter – zu einer Freundin nach Osnabrück. In Deutschland lebt sie seit Ende April 2022. Das Land kennt sie bereits ein wenig aus ihrer Studienzeit, sie versteht die Sprache, das System, und hofft, hier zumindest für eine Weile ein neues Zuhause zu finden.

Heute sagt sie, dass sie dieses Zuhause tatsächlich gefunden hat. „Wie man auf Deutsch sagt: klein, aber fein“, erzählt sie lachend. Osnabrück sei lebendig genug, dass man immer etwas tun könne, aber klein genug, um sich schnell zurechtzufinden und eine gemütliche Atmosphäre zu spüren. Besonders freut sie sich über die aktive ukrainische Community in der Stadt, die gut vernetzt ist und ein breites Angebot bietet – von religiösen Treffen über kulturelle Veranstaltungen bis zu Sprachgruppen. Auch Ulyana selbst trägt etwas dazu bei. Sie gründet einen Frauenclub, in dem sich inzwischen mehr als 300 Ukrainerinnen austauschen – über Formulare, Kinderbetreuung, Jobmöglichkeiten oder ganz Alltägliches wie die Suche nach einem Ersatzgerät für die defekte Waschmaschine. Regelmäßig treffen sich die Frauen zudem zu einem Sprachcafé, um ihr Deutsch zu verbessern – gemeinsam mit Muttersprachlerinnen, die korrigieren und unterstützen.

„Sprache ist der Schlüssel zur Integration“, sagt Ulyana. „Aber nicht jede Frau hat die Möglichkeit, einen Sprachkurs zu besuchen, das kann es doch nicht sein! Sie könnten sich integrieren, die Sprache lernen, dann einen Job ergreifen – wir wollen ja gar nicht zuhause sitzen!“ Besonders viele Ukrainerinnen in Osnabrück seien alleinerziehend, oft ohne familiäre Unterstützung, und deshalb gezwungen, zu Hause zu bleiben. Mit ihrem Sprachcafé will Ulyana ihnen genau dort helfen – beim Ankommen, beim Lernen, beim Dazugehören. Ihr selbst hat der Start in Deutschland leichter gefallen, weil sie bereits gut Deutsch sprach. Sie arbeitet im Marketing, hat ein tolles Team, und kann ihre Erfahrungen und Fähigkeiten gut einbringen. Ihr Sohn, der kein Wort Deutsch sprach, als sie ankamen, besucht mittlerweile die achte Klasse eines Gymnasiums – „und spricht inzwischen besser als ich“, sagt sie stolz. Auch er hat sich eingelebt, obwohl er anfangs die Großeltern und die Heimat vermisste. Nach der Schule telefoniert er fast täglich per Zoom mit seiner Oma, um mit ihr Ukrainisch zu sprechen – so bleibt auch die Sprache Teil seines Lebens.

Auf die Frage, ob sie in Deutschland bleiben möchte, antwortet Ulyana nachdenklich: „Das ist eine große Frage, die ich gar nicht wirklich beantworten kann. Wir haben am Anfang alle gedacht: nächste Woche ist wieder Frieden. Aber so langsam verlieren wir den Glauben daran. Und je länger wir hierbleiben, desto mehr haben wir uns hier ein Leben aufgebaut. In der Ukraine haben wir nichts mehr.“ Sie verfolgt die Nachrichten aus der Heimat genau und war seit ihrer Flucht einmal wieder dort. Der Besuch war schwer – die ständigen Luftalarme ließen sie sich ununterbrochen unsicher fühlen. Je länger der Krieg dauert, desto kleiner wird ihre Hoffnung, und doch sagt sie: „Wir als Ukrainer kennen das. Wenn man sich die Geschichte des Landes anschaut, gab es immer wieder schwere Zeiten. Diese ist mit Abstand die schlimmste, aber unsere Geschichte und Erfahrungen lassen uns die Hoffnung nicht verlieren, dass wir auch das überleben können.“

Ulyana lässt sich nicht unterkriegen. Sie schreibt regelmäßig für ein ukrainisches Onlineportal über das Leben und die Herausforderungen ukrainischer Geflüchteter in Deutschland. Sie sagt: „Ich bin sehr dankbar, wie offen wir hier aufgenommen wurden. Viele meiner Freunde leben verstreut in ganz Europa oder in Amerika, aber Deutschland hat uns sehr nett aufgenommen.“ Dann lacht sie und fügt mit einem Zwinkern hinzu: „Wir sind wahrscheinlich inzwischen besser darin, Formulare auszufüllen, als Deutsche.“

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