Schritt für Schritt Ankommen in einem neuen Leben

Nataliia kommt an einem regnerischen Dezembertag im Büro vorbei. „In der Ukraine sehen die Winter ganz anders aus“, berichtet sie. „Viel mehr Schnee, viel kälter, aber auch mehr Sonne.“ Sie erzählt, dass ihr Sohn sie immer wieder fragt: „Mama, wann schneit es endlich?“. Sie beiden vermissen das knirschende Geräusch der Schuhe, wenn man durch Schnee läuft, das sie aus den Wintern in der Ukraine kennen. Aber seitdem sie am 22. März 2022 die Ukraine verlassen mussten, haben die beiden ein neues Zuhause gefunden, in Osnabrück, das die meisten Winter ohne Schnee auskommt.

Nataliia ist in der Ostukraine aufgewachsen und hat dort in einer kleinen Stadt in der Region Donezk gelebt, hat dort eine Familie gegründet. In Mirnograd gab es drei Kohleminen, in denen viele der Einwohner gearbeitet haben. Die Minen sind inzwischen zerstört und viele der Menschen haben die Stadt verlassen. So wie auch Nataliia, die mit ihrem Sohn, ihrer Schwester und deren zwei Kindern inzwischen in Osnabrück wohnt. Nataliia erzählt: „Bei uns hat der Krieg schon 2014 begonnen und nicht erst 2022. Schon zu Beginn des Krieges ist immer wieder die Wasserversorgung ausgefallen und wir haben immer wieder Schüsse und Kämpfe in der Nähe gehört. Ich bin die Angriffe gewohnt.“ Nataliia wollte so lange wie möglich in ihrer Heimat bleiben, trotz der unsicheren Situation. Als aber im März 2022 die Nachbarstadt Pokrowsk bombardiert wurde, musste sie sich eingestehen: Es wird zu gefährlich.

Sie packt einen großen Koffer und fährt mit ihrem Sohn an die polnische Grenze. Es werden Sonderzüge zur Evakuierung eingesetzt, die die Menschen direkt bis an die Grenze zu Polen bringen. Die Grenze müssen die beiden zu Fuß überqueren und sie verbringen die erste Nacht in Polen in einem Flüchtlingslager.

Foto: Ma’an Moussli/Nun Kreativa

Nataliia erinnert sich: „Ich habe schon oft Bilder aus Flüchtlingslagern im Fernsehen gesehen, mit Menschen, die aus Syrien oder Afghanistan fliehen mussten, aber ich konnte mir nie vorstellen, dass ich einmal in so einer Situation sein würde. Aber da war ich nun, mit meinem Sohn in einem Camp in Polen.“ Sie kann zusammen mit ihrer Schwester und den Kindern in der darauffolgenden Nacht bei einem Verwandten weiter im Westen Polens unterkommen, bevor sie zwei Tage später nach Osnabrück weiterreisen.

In Osnabrück lebt eine Tante von ihr – es gibt also einen guten Grund, ausgerechnet dorthin zu fahren. Bei ihrer Ankunft gehen sie und ihre Schwester davon aus, dass der Krieg schnell vorbei sein wird und dass sie in spätestens sechs Monaten in die Heimat zurückkehren können, dass sie nur vorübergehend in Deutschland leben werden. Nataliia versucht dennoch, einen Deutschkurs zu beginnen, meldet ihren Sohn für die erste Klasse an und macht sich auf die Suche nach einer eigenen Wohnung. „Wenn ich nur zuhause bin und nichts zu tun habe, geht es mir irgendwann schlecht. Ich bin lieber beschäftigt!“ sagt sie. Zusammen mit anderen Ukrainer*innen aus Osnabrück ist sie im Verein „We help Ukraine“ aktiv. Sie machen Ausflüge in andere Städte, Touren durch Osnabrück und feiern zusammen ukrainische Feste. Doch natürlich sind Nataliias Gedanken auch immer bei ihren Eltern und den Menschen in der Ukraine. Sie und ihre Schwester würden die beiden gerne nach Deutschland holen, aber ihre Eltern wollen in der Ukraine, in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Inzwischen verläuft die Frontlinie nur noch 2 Kilometer entfernt von Mirnograd und die Lage wird immer unsicherer. Nataliia versucht, regelmäßig mit ihren Eltern zu telefonieren oder ihnen zu schreiben, aber weil es nur für vier Stunden jeden Tag Strom und Telefonnetz gibt, ist das nicht immer möglich.

Nataliia fällt es sehr schwer zu sehen, dass sie ihre Heimatstadt nie wieder besuchen kann: „Es ist, als ob mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.“ Doch so schwer ihr diese Einsicht fällt, motiviert sie sie auch, trotz der Herausforderungen und Sorgen weiterzumachen und in Deutschland anzukommen. Sie lernt Deutsch und findet eine eigene Wohnung für sich, die Schwester und die Kinder. In einem Arbeitsmarktqualifizierungskurs bei Exil e.V. bereitet sie sich auf den Berufseinstieg vor. Sie ist Zahntechnikerin und liebt ihren Job, möchte unbedingt in die Arbeit zurückkehren. Damit aber ihr Diplom aus er Ukraine anerkannt wird, muss sie ein Jahrespraktikum in einem Labor machen. Den Platz hat sie bereits und der Kurs startet bald. „Schritt für Schritt“, sagt sie, „kommen wir hier an und bauen uns ein neues Leben in Osnabrück auf.“

Ihr gefällt es hier, in dieser Stadt. Nicht so groß wie Berlin, aber groß genug, dass es immer etwas zu tun gibt, immer eine Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Sie fühlt sich wohl und ist sehr dankbar, wie sie hier aufgenommen wurde und wie viel Hilfe sie bekommen hat. Einzig der Schnee, der wünschen sie und ihr Sohn sich für das anstehende Weihnachtsfest im verregneten Osnabrück.

Text: Luca Wirkus/Exil e.V.