„Ich fühle mich das erste Mal nicht fremd“
Anush ist in Deutschland aufgewachsen, als Tochter armenischer Eltern, die 1999 aus Armenien geflohen sind – ein Jahr, in dem viele Familien schweren Herzens ihr Land verlassen mussten. Anush wächst mit ihrem Bruder in Deutschland auf und die Familie findet ein neues Zuhause in der Fremde. Die armenische Community in Deutschland ist nicht besonders groß – schon gar nicht im Landkreis Osnabrück – da her erlebt Anush keine kulturellen Bezüge außer der eigenen Familie. Armenisch sprach sie nur zu Hause. „Ich hatte früher sogar Angst, aus Versehen armenisch zu sprechen“, erzählt sie. Heute ist sie froh darüber, dass ihre Eltern trotzdem konsequent ihre Sprache mit ihr gesprochen haben – sie kann sie bis heute fließend.
Inzwischen ist sie erwachsen und sehr aktiv in der armenischen Community in Deutschland, ist Vorsitzende von ARI, dem Jugendverband der Armenier*innen in Deutschland. Erst durch ARI kam sie wieder mit ihrer Kultur in Berührung. „Ich fühle mich das erste Mal nicht fremd“, sagt sie. In Deutschland hatte sie oft das Gefühl, beobachtet zu werden, als würde man sie „besichtigen“. Bei ARI hingegen erlebt sie Zugehörigkeit – einen Ort, an dem es nicht um Herkunft oder Politik geht, sondern um Begegnung, Kultur und Gemeinschaft. „Wir schaffen Räume für Toleranz und Offenheit“, sagt sie.
Der Weg dorthin war lang. Nach der Flucht lebte ihre Familie zunächst in einer Sammelunterkunft in Oldenburg. Niemand sprach Armenisch, Unterstützungsstrukturen gab es kaum, Übersetzungen ohne Internet fast unmöglich. Anush erinnert sich an die frühen Jahre: an Wartezeiten, an Ohnmacht, an die demütigende Erfahrung, mit Gutscheinen an der Supermarktkasse zu stehen. „Das war die reinste Schikane“, sagt sie. Wenn sie heute von Bezahlkarten für Geflüchtete hört, fragt sie sich, warum Geschichte sich wiederholen muss. „Es geht bei solchen Regelungen um mehr als Bürokratie – es geht um Entmündigung, am Ende um Entmenschlichung.“
Bei ARI hat Anush hingegen einen Ort gefunden, an dem sie gestalten kann. Ihr Engagement ist fast wie ein Teilzeitjob: Sie schreibt Förderanträge, organisiert Veranstaltungen, plant Spendenaktionen. Besonders stolz ist sie auf einen Feminismus-Workshop, den sie mitinitiiert hat. „Man muss auch in der eigenen Community konservative Strukturen aufbrechen“, sagt sie. „Alle haben etwas daraus mitgenommen – das war ein starkes Gefühl.“
Die Arbeit des Vereins geht sogar über Deutschland hinaus. Ehrenamtlich haben einige Mitglieder einen Besuch in Armenien organisiert: Die Gruppe war in ländlichen Regionen des Landes unterwegs, um Mädchen neue Perspektiven zu eröffnen. „Es ist mühsam, aber lohnend“, sagt Anush. „Gerade dort, wo es bislang noch sehr traditionell zugeht, wollen wir den Blickwinkel weiten.“
Denn Anush ist überzeugt: Kulturelle Bildung darf nicht nationalistisch sein. Begegnung und Diversität sind für sie der Schlüssel, um Entfremdung in der Gesellschaft entgegenzuwirken. „Wir müssen Rassismen auch in unseren eigenen Reihen thematisieren. Niemand muss ‚typisch armenisch‘ sein, um Teil von ARI zu sein.“
Oft denkt sie darüber nach, was ihrer Familie das Ankommen in Deutschland erleichtert hätte. Diese Frage treibt sie an – sie gibt Nachhilfe, hilft bei Übersetzungen, engagiert sich ehrenamtlich. „Ich will etwas zurückgeben“, sagt sie leise. „Weil ich weiß, wie es ist, neu anzufangen.“

