Tamer ist jemand, der nicht schweigen kann, wenn er Unrecht sieht. Gerechtigkeit ist für ihn keine abstrakte Idee, sondern eine Haltung. Wenn andere wegsehen, will er handeln. Dieses Bedürfnis, das Richtige zu tun, hat ihn in seinem Leben oft in Bedrängnis gebracht. Er ist wütend auf die Politik in seinem Land. Opposition und Regierung bekämpfen sich, doch in seinen Augen unterscheiden sie sich kaum voneinander. Beide, sagt er, schieben das Geld von einer Seite zur anderen, ohne dass es jemals bei den Menschen ankommt. Der Sudan könnte ein reiches Land sein – aber die Menschen bleiben arm.
2008 war das schlimmste Jahr seines Lebens. In diesem Jahr verlor Tamer seinen besten Freund, der für ihn wie ein Bruder war. Beide gerieten zufällig in eine Schießerei – plötzlich kamen von allen Seiten Kugeln. Sein Freund war sofort tot, Tamer wurde schwer am Fuß verletzt. Für ihn war dieser Tag ein Bruch. Er sagt, ab da habe sein Leben aufgehört. Es gab keinen Grund mehr, weiterzuleben. Er zeigte das Verbrechen nicht an. Zu groß war die Angst, sich selbst in Gefahr zu bringen, zu gering das Vertrauen in Polizei und Justiz. Er wusste, dass es im Sudan keine Gerechtigkeit für den Tod seines Freundes geben würde.
Mit Hilfe seines Bruders beendete Tamer dennoch die Schule – nur, weil dieser ihn jeden Tag dazu drängte. Ein Studium aber kam nicht infrage. Die Gebühren waren zu hoch, die Perspektiven zu gering. Nach der Schule zog Tamer ziellos durchs Land, arbeitete überall, wo es möglich war – auf Feldern, Baustellen, als Hilfsarbeiter. Zuhause konnte er nicht bleiben, dort war es längst zu gefährlich. Sein Bruder kam in Haft, und die Farm der Familie, einst ein sicherer Ort, wurde geplündert. Erdnüsse, Gemüse, alles, was die Familie anbaute – verschwunden. Marodierende Gruppen zogen durch das Land, raubten und zerstörten ganze Dörfer. Niemand rechnete mehr damit, dass Unrecht gesühnt oder Verluste ersetzt würden.
In dieser Zeit begann Tamer, sich öffentlich zu äußern. Auf Facebook schrieb er über Ungerechtigkeit, kritisierte die Regierung, forderte Veränderung. Doch damit machte er sich Feinde. Es wurde gefährlich, im Sudan zu bleiben – nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie. Schließlich entschied er sich, zu fliehen. Er floh nach Ägypten, in der Hoffnung, dort Sicherheit und Arbeit zu finden. Doch auch dort erlebte er Gewalt und Übergriffe. Der Traum von einem sicheren Leben zerschlug sich schnell. Schließlich blieb ihm nur noch der Weg nach Europa.
Er bestieg ein Boot, das ihn nach Italien bringen sollte. Über die Überfahrt spricht er kaum. Erst als er in Italien ankommt, erzählt er wieder. Er erinnert sich an die unerwartete Freundlichkeit der Menschen dort – Fremde, die ihm etwas zu essen gaben oder Kleidung schenkten, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Er war abgemagert, erschöpft, schmutzig, wog kaum sechzig Kilo und hatte seit Wochen nicht richtig geschlafen. Ein anderer Sudanese bot ihm sein Handy an, damit er seine Familie anrufen konnte. Zwei Monate lang hatten sie nichts von ihm gehört – die Erleichterung am anderen Ende der Leitung war unbeschreiblich.
Doch Italien war für Tamer nur eine Zwischenstation. Er kannte niemanden, hatte keine Anlaufstelle. Von Großbritannien hatte er gehört, dort könnten Geflüchtete vielleicht einen sicheren Aufenthalt bekommen. Also machte er sich auf den Weg dorthin – durch Italien, über Frankreich, bis nach Calais. Dort versuchte er, die Grenze nach England zu überqueren. Gemeinsam mit einem Freund schmiedete er einen Plan. Doch sie wurden entdeckt – wegen einer Zigarette. Tamer lacht, wenn er heute davon erzählt. Ein Grenzbeamter ließ seine Zigarette fallen, und als Tamer sich bückte, um sie aufzuheben, wurde er gesehen und festgenommen. Der Traum von England war damit erst einmal vorbei.
Er blieb nicht in Calais. Tamer wollte weiter, irgendwohin, wo er endlich ankommen konnte. Ohne Geld, ohne Hoffnung, allein auf sich gestellt, traf er eine Entscheidung, die man kaum begreifen kann: Er legte sich unter einen Lastwagen, eingezwängt zwischen Reifen und Handbremse, um als blinder Passagier nach Europa hineinzufahren. Als man ihn später fragt, ob er keine Angst gehabt habe, antwortet er ruhig: Seit der Überfahrt über das Mittelmeer habe er nichts mehr zu verlieren gehabt. Angst, sagt er, war da längst kein Thema mehr. „Ich hatte nichts mehr – weder Besitz noch Sicherheit. Also war es mir egal, ob ich lebe oder sterbe.“

